Ein Unrecht muß gesühnt werden
Von Manolis Glezos, 29. September 1995 Quelle: DIE ZEIT, 40/1995
NAXOS. – Seit Ende vergangenen Monats verklagen Tausende von Griechen vor griechischen Gerichtendie Bundesrepublik Deutschland auf Entschädigung. Sie verlangen Wiedergutmachung für den Verlustihrer Angehörigen und für andere Schäden während der dreieinhalbjährigen deutschen BesetzungGriechenlands im Zweiten Weltkrieg. Es handelt sich um Klagen von Privatpersonen, die von denPräfekten zweier von der Besetzung besonders hart getroffener Provinzen angeregt wurden.
Seit Jahrzehnten verlange auch ich, daß Deutschland seinen aus den Weltkriegen resultierendenVerpflichtungen gegenüber Griechenland nachkommen muß, wenn es tatsächlich gewillt ist, unterdieses traurige Kapitel deutsch-griechischer Vergangenheit einen Schlußstrich zu ziehen.
Die deutsche Seite lehnte bisher die Zahlung von Reparationen mit der Begründung ab, diese Frage sei1953 bei der Londoner Konferenz auf die Zeit nach dem Abschluß eines noch ausstehendenFriedensvertrages zwischen Deutschland und den Alliierten vertagt worden. Diese Vertagung beziehtsich auf die Zeit nach der Unterzeichnung eines Friedensvertrages mit dem vereinigten Deutschland.
Nach herrschender Rechtsauffassung entspricht einem solchen Friedensvertrag der von den deutschenStaaten und den vier Siegermächten des Zweiten Weltkrieges in Moskau unterzeichneteEinigungsvertrag vom 12. September 1990 (bekannt als Zwei-plus-Vier-Vertrag). Das vereinteDeutschland ist demzufolge seit 1990 verpflichtet, seinen aus dem Zweiten Weltkrieg entstandenenVerpflichtungen zur Wiedergutmachung nachzukommen.
Bei den Verpflichtungen Deutschlands gegenüber Griechenland handelt es sich um folgende Summen:
1. Restschulden aus Entschädigungsverpflichtungen aus dem Ersten Weltkrieg in Höhe von achtzigMillionen Mark, in Preisen von 1938.
2. Aufgelaufene Schulden Deutschlands aus dem bilateralen Handel zwischen den beiden Kriegen inHöhe von 523 873 000 US-Dollar, in Preisen von 1938.
3. Reparationsforderungen nach Berechnungen der Pariser Konferenz der Siegermächte von 1946 inHöhe von 7,1 Milliarden US-Dollar, in Preisen von 1938 (Entschädigung für die Beschlagnahme vonPrivat- und Staatseigentum, Plünderung, Zerstörung).
4. Ansprüche aus einer Zwangsanleihe von 3,5 Milliarden US-Dollar, die der Bank von Griechenland 1942aufgenötigt wurde, um sowohl die Stationierungskosten für die Besatzungstruppen in Griechenland alsauch die Verpflegung des Afrika-Korps von General Rommel zu bestreiten. Experten schätzen dieheutige griechische Forderung unter Einbeziehung eines Minimalzinssatzes von drei Prozent aufdreizehn Milliarden US-Dollar.
In diesen Wiedergutmachungsforderungen sind die enormen Verluste unseres Landes anMenschenleben nicht inbegriffen. Bei einer Gesamtbevölkerung von 7 Millionen verlor Griechenland:
70.000 Personen infolge direkter kriegerischer Auseinandersetzungen; 12.000 Zivilisten infolgeindirekter kriegerischer Auseinandersetzungen; 38.960 hingerichtete Menschen; 100 .00 inKonzentrationslagern ermordete Geiseln (ein großer Teil davon griechische Juden); 600.000 Hungertote.
Die Frage der Reparationen Deutschlands gegenüber Griechenland ist nicht nur eine des Geldes. Sie hatauch eine moralische und eine politische Dimension. So hat Italien seine gesamten aus dem Kriegresultierenden Reparationsverpflichtungen gegenüber Griechenland erfüllt. Auch Bulgarien, daszusammen mit Deutschland und Italien Griechenland von 1941 bis 1944 besetzt hatte, erfüllte alle seineVerpflichtungen, um das Unrecht wiedergutzumachen, das seine Truppen am griechischen Volkbegangen hatten. Warum sollte Deutschland von seinen Verpflichtungen befreit werden?
Die griechische Nation hat während des Zweiten Weltkrieges durch die Brutalität der Nazibesatzer dieblutigste und erstickendste Sklaverei in den 3000 Jahren ihrer bewegten Geschichte erlebt. Ich selbst binfest davon überzeugt, daß das deutsche Volk heute mit dem Nationalsozialismus nichts zu tun hat. Ichglaube jedoch, daß es sich endlich mit der Frage der deutschen Besetzung Griechenlands und den darausfolgenden Reparationsansprüchen auseinandersetzen muß. Griechenland fordert nur, was ihm zusteht.
Unser Volk verlangt keine Revanche. Es wird auch nicht fordern, daß Deutschland seine Verpflichtungenauf einmal einlöst.
Es gibt Möglichkeiten und Wege, Reparationen zu zahlen, ohne die Wirtschaft Deutschlands zubeeinträchtigen: Gewährung von Stipendien an Studenten und junge Wissenschaftler aus Griechenlandzum Studium in der Bundesrepublik, wobei die Nachkommen der Opfer der Nazis Vorrang genießen;Transfer von deutschem Know-how; Übernahme der Kosten für die Durchführung vonInfrastrukturprojekten deutscher Firmen in Griechenland durch den deutschen Staat; direkte finanzielleHilfe. Die genauen Modalitäten und einen konkreten Zeitplan könnte ein gemeinsamerWirtschaftsausschuß ausarbeiten.
Griechenland und Deutschland gehören der Europäischen Union an und arbeiten für das gemeinsameEuropa. Das Zustandekommen dieses vereinigten Europas kann nur auf Freundschaft und Vertrauenzwischen beiden Ländern aufgebaut und nur durch die Überwindung offener Probleme aus dergemeinsamen Geschichte erreicht werden.
Manolis Glezos (73), Journalist und Politiker, gehört zu den Symbolfiguren des griechischenWiderstandes im Zweiten Weltkrieg.
Quelle: https://www.zeit.de/1995/40/Ein_Unrecht_muss_gesuehnt_werden/komplettansicht